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 Rezension

Aleatorischer Materialismus

Das Adjektiv „aleatorisch“ bedeutet dem Glücksspiel zugehörig, vom Zufall abhängig. Der aleatorische Materialismus sei keine Philosophie neben anderen Philosophien, sondern „eine ‚Strömung’, die das philosophische Feld immer neu durchquert und verschiebt“ (S. 59). Nach Hardt/Negri ist der aleatorische Materialismus eine „Gegenströmung“ im bzw. zum „westlichen Denken“. Das Verhältnis zu einer Reihe von Philosophien ist vermittelt durch die „de-konstruierenden Lektüren Foucaults, Deleuzes und Derridas“ (S. 59). Der aleatorische Materialismus ist nicht an dem Wahrheitsgehalt einzelner Sätze interessiert, sondern benutzt die Geschichte der Philosophie bestenfalls als Steinbruch, aus dem man sich „ohne Rücksicht auf philologische Bezüge“ das herausholt, was „für eine zugleich ethisch, politisch und philosophisch zu praktizierende und in diesem Sinn ‚materialistische Staatskritik in der Postmoderne’, also um eine Kritik des Empire“ dienlich ist. Ist ein Moment eines rationalen Wahrheitsbegriffs immer auch an die Erkenntnis um ihrer selbst willen gebunden, wird dagegen von Althusser/Negri/Seibert und Konsorten alles auf den jeweiligen politischen Zweck hin funktionalisiert, sodass zwangsläufig im Ganzen, also philosophisch, nur falsches Bewusstsein herauskommen kann.

Verhältnis zur Dialektik

Das lässt sich an Althussers Verhältnis zur Dialektik zeigen, der Seifert folgt. War er nach Seibert noch 1968 Anhänger des dialektischen Materialismus, vermutlich, weil die Masse der revoltierenden Studenten dialektisch dachte, es geradezu ein Modebegriff war, so ist ihm alle Dialektik 1986 „ein Gräuel“ (nach Seifert, S. 58). Die berechtigte Kritik Althussers an einem letztlich sich durchsetzenden Determinismus (siehe unsere Kritik der „linken Sehnsucht nach dem Determinismus“), führt ihn zur abstrakten Negation von Dialektik überhaupt. Er schüttet das Kind mit dem Bade aus. Dialektik heißt, den Widerspruch zu denken. Um sachliche Widersprüche zu vermeiden, die im Denken ihren Grund haben, muss der Widerspruch gedacht werden. Um existierende Widersprüche zu begreifen, muss das Denken als solches widerspruchsfrei sein. Jede wissenschaftliche Aussage hat die Form eines nicht-tautologischen, affirmativen universalen Urteils. Als affirmatives universales Urteil hat es die Form: Alle A sind B. Ein solches Urteil behauptet die Identität und einen Unterschied von logischem Subjekt und Prädikat. „Jedes nicht-tautologische affirmative Urteil formuliert also eine Beziehung, die sowohl die Identität als auch einen Unterschied enthält, oder in Hegelschen Termini: jedes nicht-tautologische affirmative Urteil ist die Identität von Identität und Nicht-Identität. So wäre jede logisch einwandfreie Argumentation in Dialektik fundiert.“ (Bulthaup: Dialektik, S. 129)

Die in der formalistischen Logik versuchte Umgehung dieses formalen Widerspruchs durch die Auffassung der Urteile als Relationen von Klassen ist nicht stichhaltig, weil sich in der Bestimmung von Klassen der Widerspruch reproduziert (vgl. a.a.O., S. 129 f.). Dialektik ist nichts anderes als der rationale Begriff von Logik. Der formale Widerspruch in jedem nicht-tautologischen allgemeinen Urteil zwingt zur systematischen Argumentation in Bezug auf den Gegenstandsbereich. Erst durch systematische Argumentation und die Reflexion der formalen Widersprüchlichkeit des wissenschaftlichen Urteils ist es überhaupt möglich, Widersprüche in der Sache zu erkennen. Wer aber unlogisch, d.h. inhaltlich widersprüchlich und unsystematisch, argumentiert oder redet, der wird objektiv unverständlich. Wenn Seibert von „Antagonismen“ (z. B. S. 21) redet, die Dialektik aber ablehnt (passim in seiner Schrift), dann weiß er nicht, was er sagt. Die Postmoderne oder Nach-Postmoderne „Geschwätzigkeit“, wie sie sich in Ausdrücken wie würfelnder Materialismus artikuliert, widerspricht dem Stand der Rationalität, wie er sich in den Einzelwissenschaften und einer avancierten kritischen Theorie ausdrückt. Ihnen gegenüber erscheint Heidegger, ein Verursacher der Paralysierung der Vernunft durch Ontologie, trotz seiner falschen Seinsphilosophie als Ausbund von Rationalität.

Dieser Begriff des aleatorischen Materialismus meint bei Seibert die „in sich plurale, doch gleichwohl führende Prozedur im Materialismus, d.h. in der Philosophie. Sie wird in ihrem Witz hier von der existenzialen Ontologie aus entwickelt.“ (S. 201) Auf Deutsch: Marx und Engels sowie Nietzsche werden von der Position Heideggers aus gedeutet. Sowohl Marx und Engels wie auch Nietzsche sowie Heidegger stehen in ihren grundlegenden Philosophien konträr zueinander. Ebenso wird mit einem „pluralen Marxismus“  das logische Gesetz, keine sachlichen Widersprüche im Denken zuzulassen, aufgehoben zu Gunsten der Möglichkeit, auch widersprüchliches Denken dem Leser andrehen zu können. Widersprüchliches Denken in der Sache aber ist objektiv unverständlich wie etwa der Ausdruck „hölzernes Eisen“. Wenn der aleatorische Materialismus quer zum „westlichen Denken“ steht, dann ist er in Bezug auf die Logik und Wissenschaftlichkeit irrational.

Zwar kann eine Philosophie, die Neues reflektiert, noch nicht die logische Stringenz haben wie ein in seiner Problematik erschlossenes und schlüssig dargestelltes Thema. Eine solche unfertige Philosophie kann ihre Aussagen aber auch nur als Hypothesen darstellen, vorsichtige Vermutungen anstellen usw. Seiberts Sprache ist jedoch kategorisch, er begründet meist gar nicht, was er sagt, sondern stellt Behauptungen auf, fällt theoretische Entscheidungen (z.B. S. 23, 64).

Der „aleatorische Materialismus“ geht ebenfalls auf Althusser zurück, der sich „nach der Zersetzung jeder Vorstellung einer sie (die Geschichte, B.G.) in letzter Instanz prägenden Determinante“ entschloss, die Geschichte zum „Prozess ohne Subjekt“ und damit „ohne ersten Grund und letzten Ziel“ zu erklären (S.58). Nun muss man, wenn man richtigerweise keinen letzten Grund und kein letztes Ziel akzeptiert, die Geschichte nicht in einem Wust von Zufällen auflösen. Die Geschichte verläuft durchaus beherrscht von Gesetzmäßigkeiten, wenn auch nicht in ihrer Totalität determiniert. Dass die Menschen erst essen, trinken und eine Wohnung haben müssen, bevor sie sich mit Politik und Kultur beschäftigen können, ist solch ein überhistorisches Gesetz (Marx); die Nichtbeachtung des Wertgesetzes führt zu schwerwiegenden Fehlern, es ist ein historisch spezifisches Gesetz, das nur im Kapitalismus gilt. Die „radikale Umwertung des Materialismus“ (S. 58), die solche Gesetzmäßigkeiten leugnet, wird unfähig im Wust zufälliger Ereignisse eine allgemeine, auch für andere einsehbare politische Strategie zu entwickeln. (Siehe dazu auch die „Wirklichkeitsanalyse“.)

Die Tatsache, dass sich das Kapital als „automatisches Subjekt“ (Marx: Kapital I, S. 169) durchgesetzt und den Verlauf der letzten 200 Jahre geprägt hat, eliminiert noch lange nicht die menschlichen Subjekte. Geschichte wird von den Menschen gemacht, sie selbst ist keine aparte Person und auch kein „schicksalhaftes Geschick“ (Heidegger), auch wenn das Resultat des Handelns der einzelnen Subjekte ein entfremdetes Produkt ist, das sich gegen und durch ihre konkreten Ziele, Interessen und Bedürfnisse durchsetzt. Seibert hypostasiert mit Heidegger Entfremdungs-Tendenzen des Kapitalismus zu Existenzialen (d.h. Grundbefindlichkeiten der Angst, des Seins zum Tode und des Rufs des Gewissens (172)) und verleiht ihnen dadurch ontologische Weihen – entgegen seiner vorgetragenen Militanz in der Bedeutung, eine entschlossene und kämpferische Haltung gegen das „Empire“ einnehmen zu wollen (S. 41).

Die Philosophie war von ihren Anfängen an, und die sich aus ihr emanzipierenden Wissenschaften folgten ihr darin, darauf aus zu erkennen, was hinter den zufälligen Erscheinungen - der bunten Welt, die sich den Sinnen darbot -, das Allgemeine, das Gesetz ist, welches die wahrnehmbaren Erscheinungen bewegt. So war z.B. die Atomtheorie des antiken Materialismus ein spekulativer Versuch, die Welt der Erscheinungen durch die Konstellation von Atomen zu erklären. Der Zufallsmaterialismus will, indem er das Allgemeine bekämpft (mit Allgemeinbegriffen!) hinter die Anfänge von Philosophie und Wissenschaft zurück in die Steinzeit des Denkens, d.h. in die Mythologie, die bei Seibert in einem Wust von Neologismen erscheint.

Wenn im aleatorischen Materialismus bei Seifert und den französischen Poststrukturalisten auch die Intention steckt, das Individuelle, Einzelne, die „Singularitäten“ und das Zufällige in der verwissenschaftlichen kapitalistischen Massengesellschaft aufzuwerten, so wird dies doch mit den falschen begrifflichen Mittel versucht. Bei Seifert entscheidet zwischen Wahrheit und Irrtum die richtige Hermeneutik des Seins – das ist qua unterstelltem Irrationalismus des Seins immer der Autor, der die „Entscheidung“ für oder gegen eine Aussage trifft. Zu dieser Entscheidung muss er dann den Leser überreden, und das Papier, auf das er seine Meinung bringt, ist bekanntlich geduldig.

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Seitbert Titel

Wahrheitsbegriff

Wahrheit als Übereinstimmung von Denken und Sache ist in der Heideggerschen Terminologie ontisch, d.h. eine Subjekt-Objekt-Relation. Ihr soll das Sein zu Grunde liegen, das sich im Dasein als Lichtung kundgibt. Bei Seibert wird jedoch der ontische Wahrheitsbegriff, das was eine wissenschaftliche Wahrheit ausdrückt (bei ihm ‚Richtigkeit’), fast völlig vernachlässigt bzw. er biegt sich wie seine Vorbilder der Dekonstruktion die Wirklichkeit so hin, wie er sie für seine unabgesicherten Projektionen benötigt. (Siehe „Wirklichkeitsanalyse“) Wahrheit im eigentlichen Sinn kommt nur der ontologischen Wahrheit zu, die sich im Wahrheitsereignis zeigt, zum Seinsverständnis des Daseins (verdinglichtes Subjekt) gehört. „Die Schlacht um die Wahrheit wird (…) in jeder einzelnen Philosophie geführt, nicht mehr als Widerspruch zweier ‚Blöcke’, sondern als ungeregeltes Widerspiel sich gegebenenfalls mehrfach kreuzender ‚Tendenzen’ (S. 59).

Das „ungeregelte Widerspiel“ drückt sich in Seiberts Buch aus als widersprüchliche Rede. Hier zwei Beispiele: Er kritisiert die „Universalisierung der Knechtschaft in der verallgemeinerten Arbeit“ im Kommunismus der Sowjetunion (S. 77), fordert aber auf der selben Seite „die egalitäre festliche Verausgabung des gesellschaftlichen Reichtums“ – als ob der ohne Arbeit zu haben ist, auf jeden Fall werden die Notwendigkeit zu arbeiten und der Genuss des Reichtums nirgends vermittelt. (Vgl. dagegen Marx: Kapital III, S. 828)

Seibert lehnt die Bestimmung des freien Willens (S. 118) ab, will das Subjekt dekonstruieren, erklärt es mit Heidegger zum Dasein, spricht von Geschichte ohne Subjekt – zugleich aber spricht er von Entscheidungen, von Autonomie (S. 24), propagiert einen Dezisionismus (S. 149). Für Leser, denen dieser Widerspruch auffallen könnte, erklärt er ihn zum Paradox. Wie Althusser suchen Hardt/Negri die „Lösung eines Paradoxes, das schon ‚im Marxschen Denken durchgängig anzutreffen ist: das Paradox, die Befreiung der revolutionären Subjektivität einem ‚Prozess ohne Subjekt’ anzuvertrauen’“. (S. 59) (In Bezug auf Marx eine reine Fälschung, vgl. u. a. MEW 23, S. 99.)

Ist Wahrheit einmal rational als Sachanalyse, einmal irrational als Seinsverständnis bestimmt, dann lässt sich mit dieser Konstruktion jede Kritik abwehren, indem zwischen ontologischer und ontischer Wahrheit changiert wird. Kritik an Negri wird ohne Argumente als „gekränkte Eitelkeit“ abgewehrt und dann auf das Seinsverständnis Negris verwiesen: „Formal auf den Punkt gebracht: Sofern Empire und Multitude auch philosophische Bücher sind, geht es in ihnen nicht nur um die Vorlage richtiger Aussagen, sondern immer auch um ein Verhältnis zur Wahrheit des Seins.“ (S. 22 f.) Dieses „Verhältnis zur Wahrheit des Seins“ ist ontologisch und fällt nicht unter die Rubrik „richtiger Aussagen“, die bloß zum Ontischen gehören. Für die Wahrheit als Ontologie gilt: „Das Sein aber gibt sich in Ereignissen zu denken.“ (S. 16) Bei Heidegger heißt es, „gibt sich kund“, aber die Passivkonstruktion wird übernommen. Seibert legt sich dadurch wie Heidegger auf einen verkappten Positivismus fest. Das subjektive Moment der Wahrheit, wir konstruieren die Erscheinungen immer auf uns zu, wie es seit Ockham in der europäischen Philosophie voll erkannt, reflektiert und begründet wurde, wird getilgt zugunsten einer Anwesenheit des Seins im Seienden und Da-Sein, indem das Bewusstsein der Menschen entsubjektiviert und verdinglicht wird. Diese Konstruktion hat den Hang zur Fatalität – trotz der scheinbar aktivistischen Begriffe wie „Höhepunkt“, „Wendepunkt“, „Entscheidung“ (alle S. 16). Unter dem Schein unabänderlicher Objektivität des Seinsverständnisses wird das bloß Subjektive, weil Willkürliche, behauptet.

Da positive ontologische Aussagen per se irrational sind, kann man mit der ontologischen Differenz jede Kritik, auch die in dieser Rezension, abwehren, ohne ein einziges Sachargument gebrauchen zu müssen. Mit der ontologischen Differenz ist dann jede Aussage und ihr kontradiktorisches Gegenteil zu rechtfertigen. Entsprechend bestehen auch die Aussagen des Buches von Seibert vorwiegend aus Behauptungen, ohne dass sie argumentativ ausreichend begründet sind, falls überhaupt Gründe genannt werden. Man braucht nur behaupten, eine Aussage zeige sich in einem Wahrheitsereignis und von Tiefe reden – so ist sie scheinbar gültig. Auch auf Widersprüche braucht man keine Rücksicht nehmen, „da Wahrheit ein dem Begriff des Seins gleichsinniger Begriff“ (S. 206) sei. Dies erinnert an die Paradigmenthese – entsprechend gilt bei Seifert außerwissenschaftlich: „Einer Wahrheit in Treue und Glauben verbunden, wird ein Dasein zum Wahrheitssubjekt.“ (S. 206)

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Die Methode der „Dekonstruktion“
und der „Entwendung“

Methode, d.h. Weg, (wissenschaftliches) Verfahren, ist nach Hegel das Bewusstsein von der Form des Ganges der Sache selbst. Bei Heidegger und seinen Erben ist die Methode ein von der Sache getrenntes abstraktes Verfahren, das  an die Gegenstände ohne inneren Zusammenhang herangetragen wird. Dadurch vollzieht diese Richtung die heutige allgemeine Tendenz des Vorrangs der Methodologie über die Sache (vgl. dazu „Praxiskriterium“ in dieser Ausgabe der Erinnyen). Neben dem Changieren zwischen der „Richtigkeit“ von Sachaussagen und der „Wahrheit des Seins“, zwischen denen Seibert beliebig pendeln kann, um seine Subreptionen behaupten zu können, ist es vor allem die Methode der „Dekonstruktion“ und der „Entwendung“, die Seifert benutzt oder vorgibt zu benutzen.

„Dekonstruktion“

Dekonstruktion bedeutet zunächst einmal Destruktion von Thesen oder eines ganzen philosophischen Systems. So hat Heidegger die gesamte Geschichte der Seinsphilosophie dekonstruiert, indem er nachgewiesen hat, dass statt des Seins immer nur Seiendes thematisiert wurde. Insofern gibt er der Kritik Kants an der Ontologie Recht. Bei Derrida bzw. seiner Schule läuft diese Dekonstruktion auf eine Zerstörung aller positiven Aussagen hinaus. J. Cullar sagt, das letztlich die Geschichte der Lektüren eine Geschichte von Fehllektüren sei, weil man immer neue Kritikpunkte entdecken kann. (Vgl. „DerridaDa und LacanCan“ in diesen Erinnyen) Seifert behauptet nun, die Dekonstruktion sei nicht nur Zerstörung, sondern auch Konstruktion. Mit der Umwandlung des Begriffs „Destruktion“ in „Dekonstruktion“ „sollte, was leider auch nicht überall verstanden wurde, verdeutlicht werden, dass es dabei zwar immer auch, doch eben nicht nur um ein Verfahren der destruierenden Verneinung, sondern letzten Endes um eine konstruktive Bejahung dessen geht, was – ich verwende ab jetzt die folgende Schreibweise – der De-Konstruktion ausgesetzt wird.“ (S. 61)

Die Frage dabei ist, welches Kriterium entscheidend ist für die Auswahl dessen, was der Destruktion anheim gestellt wird und was durch die Konstruktion übernommen oder bejaht werden soll. Neben mehr metaphorischen Angaben wie „Auflockerung der verhärteten Tradition“, „Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen“ und „Freigebung ursprünglichen Erfahrungen“ (S. 62) ist das entscheidende Kriterium das „Heute“: „Negierend verhält sich die Destruktion nicht zur Vergangenheit, ihre Kritik trifft das ‚Heute’.“ (Heidegger, zitiert nach Seifer, S. 62) Wenn nun das „Heute“ das Kriterium für die Destruktion oder Konstruktion in der Dekonstruktion ist, dann läuft es auf die Willkür des Konstrukteurs hinaus. Seine heutigen theoretischen Interessen werden zur Bestimmung dessen, was in der Geschichte der Philosophie gelten soll und was nicht. Die Methode der De-Konstruktion läuft auf eine Subjektivierung der Geschichte der Philosophie hinaus. Das hat nichts mit der Erkenntnis zu tun, das neue gegenwärtige Erfahrungen auch neue Aspekte in historischen philosophischen Systemen offenbaren können. Sondern im Gegenteil, die ganze Geschichte der Philosophie wird, z.B. von Heidegger, dekonstruiert, um seine neue positive Ontologie zu rechtfertigen.

Bei Seibert läuft die De-Konstruktion auf eine willkürliche Übernahme von Philosophemen aus disparaten Philosophien hinaus, deren einziges Auswahlkriterium die Rechtfertigung seiner eigenen Thesen ist. Die Geschichte der Philosophie wird zum Steinbruch, aus dem man sich beliebig bedienen kann. Begreift man die Geschichte der Abfolge der philosophischen Systeme als Entwicklung zur Wahrheit, dann wird durch die De-Konstruktion dieser Geschichte oder einzelner Philosophien die heute mögliche Rationalität, eine avancierte Vernunft, untergraben und es kann keine begründete philosophische Wahrheit mehr geben.

„Entwendung“

Seibert nennt das konkrete Verfahren willkürlicher Rechtfertigung mit Zitaten aus dem zum Steinbruch heruntergebrachten Geschichte der Philosophie „Entwendungen“. Auch hierbei ist er nicht der Erfinder, sondern das „Maßgebliche Verfahren der Wiederaufnahme“ entnimmt er Debord: „Die Entwendung ist das Gegenteil des Zitats, der theoretischen Autorität, die stets bereits deswegen verfälscht ist, weil sie Zitat geworden ist; weil sie zu einem aus seinem Zusammenhang, aus seiner Bewegung und schließlich aus seiner Epoche als globalem Bezugsrahmen und aus der bestimmten Option, die es innerhalb dieses Bezugsrahmen war – sei diese richtig oder irrig erkannt – gerissenen Fragment geworden ist.“ (Debord, zitiert nach Seibert, S. 63)

Philosophie und Wissenschaft hat es mit den Gesetzen der Bewegung zu tun, nicht mit der Bewegung selbst, diese hat unendliche Facetten und kann bestenfalls beschrieben, nicht vollständig erklärt werden, da sie immer auch dem Zufall unterworfen ist. Debord historisiert in dieser Auffassung das gesamte Denken, was einen Rückfall in den Mythos bedeutet. Die Tatsache, dass ein Zitat aus dem Kontext genommen ist oder aus einer früheren Epoche angeführt wird, heißt noch lange nicht, dass der Gedanke, das Argument oder der Beleg falsch ist. Mit dieser pauschalen Kritik an Zitaten kann man jeden Gedanken als falsch, veraltet oder abwegig denunzieren. Es geht Debord/Seifert auch nicht um sachliche Wahrheit („richtig oder irrig“), sondern um die beliebige und willkürliche Einsetzung von Aussagen und die skeptische Negation von Wahrheiten überhaupt:

„Die Entwendung ist die flüssige Sprache der Antiideologie. Sie erscheint in der Kommunikation, die weiß, dass sie nicht beanspruchen kann, irgendeine Garantie in sich selbst und endgültig zu besitzen. Sie ist, im höchsten Grad, die Sprache, die kein früherer und überkritischer Bezugspunkt bestätigen kann. Ihre eigene Kohärenz, in ihr selbst und mit den praktikablen Tatsachen, kann im Gegenteil den früheren Wahrheitskern, den sie wiederbringt, bestätigen. Die Entwendung hat ihre Sache auf nichts gestellt, was außerhalb ihrer eigenen Wahrheit als gegenwärtiger Kritik liegt.“ (Debort, ebda.)

Ein Denken, das „kein früherer und überkritischer Bezugspunkt bestätigen kann“, baut nicht auf bereits bestehenden Wahrheiten auf, sondern stellt skeptizistisch alles unter Generalverdacht der Falschheit, ohne konkrete Argumente vorzubringen, um in der gegenwärtigen Kommunikation ungehemmt von Sachhaltigkeit mitmischen zu können. Die Kohärenz der Entwendung liegt allein in der Absicht der Kommunikation und deren Angemessenheit bei der pragmatischen Wirkung („praktikablen Tatsachen“). Die Entwendung hat keinen Gegenstand („ihre Sache auf nichts gestellt“) als sich selbst („als gegenwärtige Kritik“). Ohne Gegenstand aber wird jede Rede widersprüchlich, weil sie einen Gegenstand suggeriert ohne sich auf ihn zu beziehen. So etwas ist keine Antiideologie, sondern wildes Denken. Während Ideologie als falsches Bewusstsein immerhin noch bewusstes Seiendes ist, enthält die angebliche „Antiideologie“ bereits nichts Seiendes mehr. Insofern ist die Entwendung das angemessene Verfahren für Seiberts Fälschungen von Marx-Aussagen (siehe unten: „Wirklichkeitsanalyse“), der Zitation widersprüchlicher Positionen als seine (widersprüchliche) Meinung. Diese Schreibe ohne Gegenstand hat eine ideologisierende Wirkung, auch wenn sie sich als Antiideologie geriert: Sie paralysiert das Bewusstsein.

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Wesen und Erscheinung

Das logische Kriterium der Wahrheit ist die Regel, sachliche Widersprüche aus dem Denken auszuschließen. Daraus folgt die notwendige Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, denn aus bloßen Erscheinungen könnte ich eine Sachbestimmung und ihr Gegenteil konstruieren. Wie das ganze Buch Seiberts von Widersprüchen strotzt, so auch seine logischen Grundlagen. Er lehnt den Wesensbegriff ab, aber benutzt ständig Wesensbegriffe, ohne die man gar nichts Verstehbares ausdrücken könnte. Dadurch ist solch ein Wesensbegriff nicht begründet, er ist dann lediglich eine willkürliche Kombination aus Erscheinungen.

So lehnt Seifert den Begriff der „Klasse an sich“ ab (S. 106), also die Funktion der Mehrheit der Menschen im Kapitalismus, Lohnabhängige und Mehrwertproduzenten zu sein, und setzt dagegen den unbestimmten Neologismus „Multituden“ ein, der von Hard/Negri kreiert wurde, und dem willkürlich zufällige Eigenschaften wie „Menge“, auch „Klasse“ im nichtmarxistischen Sinn, Bevölkerung, Volk, Nation, Immigranten, weiter: Geschlecht, Rasse, Generation, sexuelle Orientierung usw. zukommen. „Während die Dialektik den Klassenkampf auf den Akt der Bewusstwerdung zuspitzt, in dem sich der Übergang von der ‚Klasse an sich’ zur ‚Klasse für sich’ vollzieht, richtet sich eine Theorie der Klassenzusammensetzung nicht auf Akte des Bewusstseins, sondern auf die sozialen Bedingungen und Praktiken eines Klassenkampfs, dem keine ‚Klassen an sich’ vorausgehen, weil er die kämpfenden Klassen selbst überhaupt erst hervorbringt.“ (S. 106)

„Dialektik“ macht gar nichts, sondern Theoretiker wie Marx, die eine Gesellschaftstheorie entwerfen, sind Subjekt der Erkenntnisse. Dass der traditionelle Marxismus sich nicht auf die „sozialen Bedingungen und Praktiken eines Klassenkampfs“ bezogen hat, ist eine der vielen Verdrehungen Seiberts. Er muss den "Akt des Bewusstseins" ablehnen, da sich die Veränderung bei ihm ohne Subjekt vollzieht, als "nicht-diskursive Praxis" (S. 32). Dass es vor den Klassenkämpfen, die nach Seibert erst Klassen hervorbringen, keine „Klassen an sich“ gegeben hat, ist der heideggerschen Willkürphilosophie von Seibert geschuldet, die nur aktuelles Geschehen, also oberflächliche Erscheinungen zum Sein zu stilisieren vermag, nicht der kapitalistischen Wirklichkeit, die nur durch theoretische Analyse zu begreifen ist. Dieser Mangel an Analyse, der hinter der Ablehnung des Begriffs „Klasse an sich“ steht, hindert Seibert aber  dennoch nicht, von „Proletarisierung“ zu sprechen. Der Unterschied von Klasse an sich und Proletarisierung soll im Folgenden liegen: Die Proletarisierten seien „als eine heterogene, fortwährend neu zusammengesetzte  und sich fortwährend neu zusammensetzende Multitude de-subjektivierter und de-sozialisierter, weil radikal ‚des-identifizierte (…) Individuen“ anzusehen (S. 84 f.) Dass sich in diesem Wechsel die Lohnarbeit, das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital, als ihr Wesen durchhält, kann mit der bloß oberflächlichen Begrifflichkeit der Multitude nicht gedacht werden.
Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist das Literaturverzeichnis von Seifert, das sieben Marxtitel aufweist, aber nicht „Das Kapital“, also Marx abschließende Analyse des Wesens der kapitalistischen Produktionsweise, obwohl Seibert den „pluralen Marxismus“ (selbst ein Ausdruck theoretischer Schizophrenie) als eine seiner drei theoretischen Quellen ausgibt.

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Letzte Aktualisierung: 27.08.2010