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Kurze Artikel

„Paradigmenwechsel“

Die historische Relativierung allen Wissens


Paradigma (lat. aus gr. Paradeigma) bedeutet Beispiel, Vorbild; paradigmatisch beispielhaft, vorbildlich. Dieser Begriff, der meist in der Sprachdidaktik in der Bedeutung von Musterbeispiel benutzt wurde, wird durch Thomas S. Kuhn auf wissenschaftliche Revolutionen angewandt, um deren Fortschrittscharakter zu eliminieren.

Der Übergang von einer wissenschaftlich vorherrschenden Auffassung zu einer späteren (konträren) Auffassung soll nicht durch immanente Kritik der älteren, die insofern als bestimmte Negation für die spätere konstitutiv bliebe, vor sich gehen, sondern die Wissenschaftsauffassungen verschiedener Epochen seien „untereinander unvergleichbar, also inkommensurabel“  (zitiert nach Stegmüller: Hauptströmungen, S. 299). Wenn eine Normalwissenschaft in die Krise gerät, sei dies nicht ein Problem in der Sache, sondern in der „psychischen Verfassung von Forschergruppen“ (a.a.O., S. 298).

Als Beispiele für Paradigmen werden gewöhnlich angeführt: Der Übergang vom ptolemäischen zum kopernikanischen System der Astronomie, von der aristotelischen Physik zur Physik der Neuzeit (Newton), von der Newtonschen Physik zur Relativitätstheorie Einsteins; oder von der sogenannten Bewusstseinsphilosophie zur Sprachphilosophie. Wie üblich übernimmt eine originalitätssüchtige Geisteswissenschaft und Philosophie solche Ideen, vor allem dann, wenn sie sich im geistigen Konkurrenzkampf bewähren und ideologische Vorteile bringen, um sie u.a. auch auf die Geschichte der Philosophie anzuwenden (Rorty, Habermas), während Kuhn sich auf die Naturwissenschaften bezog.

Ontologische Voraussetzung der Paradigmenphilosophie ist die Eliminierung des metaphysischen Wahrheitsbegriffs. Demnach kann es Wahrheit als Übereinstimmung der Theorie mit ihrem extramentalen Gegenstandsbereich nicht mehr geben. Es wird der wissenschaftliche Fortschritt bestritten und alle „Paradigmen“ zum historisch Einmaligen historisiert. „Phasen sogenannter normalen Wissenschaft, in denen der Wissenszuwachs kontinuierlich ist, werden von wissenschaftlichen Revolutionen unterbrochen, die jeweils durch einen radikalen Sprung von einer normalwissenschaftlichen Phase zu einer von ihr grundlegend verschiedenen führen. Die ganze Entwicklung ist einem evolutionären Prozess vergleichbar, der seine Richtung nicht aus einem vorgegebenen, äußeren Ziel (z.B. ‚Wirklichkeit’ oder ‚Wahrheit’) gewinnt, sondern aus Mechanismen, die ihn von innen steuern.“ (Philosophie der Gegenwart, S. 335) Was jeweils als bestehendes Paradigma bzw. Normalwissenschaft gilt, ist eine Sache des Konsenses (siehe auch „Gegen Habermas“).

Der Übergang von einer Epoche zur anderen, von einem Paradigma zum nächsten wird irrational gedacht. Es ist das historische Kräfteverhältnis, die Eingebung des Wissenschaftlers oder eine neue Mode, die ein neues Paradigma schaffen, das dann gilt, also als neue „normale Wissenschaft“ (a.a.O., S. 335 f.) angesehen wird. Die jeweils bestehende Normalwissenschaft gerät in eine Krise und wird durch aufsässige Denker, die sich gegen die konservativen Verteidiger der alten Normalwissenschaft richten, beseitigt - allerdings nicht durch Überzeugung, sondern durch das biologische Aussterben der Vertreter der alten Auffassung. Das entstandene Paradigma ist etwas völlig Neues und hat mit dem Alten nichts mehr gemein. Es verallgemeinert sich durch „Bekehrungserlebnisse“ (Stegmülle: Hauptströmungen, S. 299).

Den Einwand, dass Wissenschaft sich immer auf etwas Gegebenes beziehe, das einen „zwingenden Maßstab für die Annehmbarkeit einer Theorie sei“ (a.a.O., S. 337), begegnet Kuhn mit dem skeptischen Argument, dass ausnahmslos alle unsere Erkenntnisse theorieabhängig seien, die Ontologie der Theorien sei selbst unsere Konstruktion, sodass sie nicht durch Erfahrungen bewiesen oder widerlegt werden könnte. Für die Paradigmentheoretiker gibt es deshalb keine fundierte Wahrheit mehr.

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Kritik

Die Entwicklung einer Wissenschaft hat immer historisch zufällige und systematische Gründe. Die Paradigmen-Denker lösen diesen Zusammenhang zugunsten der historisch zufälligen Gründe auf und abstrahieren von den systematischen Gründen. Dadurch aber wird Wahrheit zu einer Sache der Entscheidung, d.h. ohne ontologischen Bezug. Diese Annahme widerspricht aber  den real existierenden Naturwissenschaften, von denen Kuhn ausgeht, die wahre Resultate nur produzieren können, indem sie ihren Gegenstand durch gegenständliche Tätigkeit (im Experiment, im Forschungslabor, in der Industrie usw.) verändern. „Das Denken, die Theorie, steht nicht mehr kontemplativ zu ihrem Gegenstandsbereich, sondern sie ist Voraussetzung einer rationalen Praxis in diesem Gegenstandsbereich, durch die die Gegenstände verändert werden. Die Übereinstimmung von Denken und Seiendem ist Resultat der Veränderung in dem Gegenstandsbereich, der Natur, sie ist Resultat der durch Theorie begründeten Aneignung der Natur durch die Subjekte.“ (Bulthaup: Gesetz der Befreiung, S. 23) Ohne ein fundamentum in re ihrer Theorie aber könnte die Wissenschaft keine Veränderung in ihrem Gegenstandsbereich hervorbringen. Wahrheit als Konsens oder vorherrschende Meinung der Wissenschaftler einer Epoche ist nicht möglich, ein solcher restringierter Wahrheitsbegriff kann nicht die Veränderungen auf der Erde mittels der Wissenschaft erklären. Die Konsenstheorie der Wahrheit führt zu einer quasi unendlichen Abfolge von Diskursen, ohne dass ein Maßstab für Wahrheit (vgl. „Praxiskriterium“) angebbar ist.

„Zwei Argumente sind gegen diese Auffassung anzuführen: die systematische Entwicklung der Wissenschaft und die praktische Verwertbarkeit ihrer Resultate; denn eine Ideologie wäre überholt mit der Epoche, deren Reflex sie ist; an einen systematischen Gang der Wissenschaft ist nicht zu denken, wenn die Grundsätze, auf denen sie aufbaut, im Fortgang der historischen Entwicklung entfallen. Auch an eine praktische Verwendung ihrer Resultate wäre nicht zu denken, wenn in diese Resultate falsche Voraussetzungen eingegangen wären. Gegen das letztere Argument wäre einzuwenden, die praktisch verwendbaren Resultate seien invariant gegen ihre theoretische Begründung, doch setzt das voraus, daß diese Resultate unabhängig von der theoretischen Begründung zu gewinnen gewesen wären. Solche Resultate könnten dann nur aus der Erfahrung, d.h. aber aus der Erfahrung einzelner Individuen stammen. Blieben sie auf diese Individuen beschränkt, so bliebe es auch die praktische Verwendung der aus solchen Erfahrung stammenden Resultate, sie wären Fähigkeiten und Fertigkeiten dieser besonderen Individuen, die mit ihnen zugrunde gingen. Auf dieser Basis wäre nicht einmal die Ausbildung einer primitiven technischen Tradition möglich, denn die kann erst dann stattfinden, wenn Erfahrungen und deren Resultate tradierbar geworden sind.“ (Bulthaup: Gesetz, S. 170)

Wenn jedoch Resultate der Erfahrung tradiert werden, wie das heute geschieht, dann setzt das die „Homogenität des Gegenstandsbereichs“ (ebda.) für eine Mehrzahl der Individuen voraus – entgegen Kuhns These von der Negation jeden Bezugs zu Gegenständen. Diese Homogenität wird in Urteilen ausgedrückt, die systematisch verknüpft werden zu einer Theorie. Ohne eine solche Tradierung von wissenschaftlichen Resultaten, müsste jede Generation immer wieder von vorn anfangen. Wissenschaft und Theorie sind systematisch organisiert. Dies ermöglicht ihnen neue Erkenntnisse zu integrieren und durch bestimmte Negation abgetaner Positionen deren rationalen Gehalt auch aufzubewahren. Die Fachsystematik ist dadurch eine Voraussetzung für den Fortschritt der jeweiligen Wissenschaft. Nach Kuhn kann es aber keinen Fortschritt geben, da jedes Paradigma immer völlig anders wäre. (Vgl. dazu auch Bulthaup: Fachsystematik, in: Gesetz der Befreiung, S. 179 ff.)

Auch die Beispiele für den Paradigmenwechsel sind keine Belege für diesen, weil falsch gedeutet: Das ptolemäische Weltsystem war nicht völlig falsch, man konnte mit ihm durchaus die Stellung der Planeten usw. berechnen oder etwa eine Mondfinsternis voraussagen – und es stimmte mit der sinnlichen Wahrnehmung überein. Insofern geht auch das durch Kepler präzisierte und durch die Newtonsche Physik abgesicherte kopernikanische Weltsystem von den gleichen Phänomenen aus – es deutet sie nur einfacher und eleganter und ist mit der neuen Physik Newtons vereinbar.

Ebenfalls hat das „Paradigma“ der Einsteinschen Relativitätstheorie nicht das „Paradigma“ der Newtonschen Mechanik abgelöst, sondern die Relativitätstheorie hat den Geltungsbereich der Mechanik nur eingeschränkt: Sie gilt nicht mehr umstandslos bei großen Massen und großen Geschwindigkeiten (es hat sich noch niemand bei Gericht beschwert, dass die Wissenschaft der Mechanik von Newton schuld an einem Unfall sei).

Wenn das alte und das neue Paradigma völlig inkommensurabel wären, wie Kuhn behauptet, dann könnte man vom neuen Paradigma her das alte gar nicht verstehen, eine identische Sprache (bzw. eine genaue Übersetzung) müsste also mindestens kommensurabel unterstellt werden, um die Inkommensurabilität zu behaupten, was dieser widerspricht.

Die angeführten Argumente prallen jedoch an der Paradigmenthese ab, denn diese behauptet, argumentationslos zu sein und auf Überredung und Propaganda zu beruhen. So sind alle Paradigmen, ob alte oder die neueste Variante, falsches Bewusstsein, Wahrheit gäbe es nicht – damit aber auch nicht die Wahrheit der Paradigmenthese. In einer herrschaftlich verfassten Gesellschaft ist solch falsches Bewusstsein Ideologie.

Die Theorie vom Paradigmenwechsel erweist sich als eine weitere Verfallsform des bürgerlichen Denkens. Sie leugnet einen objektiven Wahrheitsbegriff, reduziert Wahrheit auf Konsens und ist dadurch eine Form des allgemeinen Skeptizismus, der das bürgerliche Selbstbewusstsein beherrscht. Sie leugnet wider die Tatsachen den wissenschaftlichen Fortschritt und singualisiert das Allgemeine, d.h., sie paralysiert die Vernunft. „Die Resonanz, die der konventionalistische Begriff des Paradigmas in der Wissenschaftstheorie fand, kann als Symptom für die Irrationalität des Wissenschaftsbetriebs gedeutet werden, in dem die irrationale Dezision für ein Paradigma den Wissenschaftlern inzwischen offenbar plausibel ist.“ (Bulthaup: Gesetz der Befreiung, S, 26)

Diese Irrationalität von Wissenschaftlern führt dazu, dass sachliche Kritik an ihren Thesen immer nur mit dem Hinweis begegnet wird, die kritisierende Position sei veraltet. Diese Erfahrung des Autors trifft sich mit Kuhns Behauptung, die Bekehrung zum neuen Paradigma erfolge nicht durch Argumente, sondern durch Überredung und Propaganda (Stegmüller: Hauptströmungen, S. 300).

Das wahre Verhältnis der einander ablösenden philosophischen Systeme hat Günther Mensching herausgearbeitet, indem er es auf den realen Geschichtsverlauf bezieht. Er wendet sich sowohl gegen die Hegelsche Idealisierung des Ganges der Philosophiegeschichte als notwendiger Gang des Weltgeistes zum Absoluten wie gegen eine Auflösung der Philosophiegeschichte in lauter zufällige Einzelsysteme. „Beide, die Grundstruktur der historischen Welt und das philosophische Denken, weisen eine immanente Folgerichtigkeit auf, die sich durch schroffe Widersprüche und abrupte Brüche ebenso herstellt wie durch die stimmige Fortsetzung bereits vorhandener Entwicklungslinien. Die in der Zeit durch Kritik und Affirmation des jeweils Vorgegebenen sich entfaltende Kontinuität des philosophischen Denkens ist der komprimierteste Ausdruck der historischen Bewegung, deren scheinbare Fatalität sie sich zugleich durch die Frage nach ihrer immanenten Vernunft und Unvernunft autonom entgegenzustellen sucht.“ (Mensching: Allgemeines, S. 13) Ob dieses Verhältnis, so wie Mensching es allgemein bestimmt, tatsächlich vorhanden ist, und wie konkret die Übergänge der einander folgenden philosophischen Systeme verlaufen sind, ist keine Frage eines allgemeinen Diskurses, sondern muss sich in der konkreten Analyse zeigen, wofür das Werk von Mensching über die Herausbildung der Moderne in der mittelalterlichen Philosophie exemplarisch steht. (Vgl. Mensching: Allgemeine)

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Literatur

Peter Bulthaup: Das Gesetz der Befreiung. Und andere Texte, Lüneburg 1998.

Günther Mensching: Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter, Stuttgart 1992.

Nida-Rümelin/ Özmen (Hg.): Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart 2007.

Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Bd. III, Stuttgart 1987.

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Letzte Aktualisierung: 27.08.2010