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Zur Vorgeschichte des offenen Briefes Religion ist zurzeit spektakulärer Aufmacher in den bürgerlichen Medien, deshalb gibt es keinen besseren Anlass darüber eine universitäre Vortragsreihe zu veranstalten, die Aspekte zur Sprache bringt, die in den Massenmedien nicht thematisiert werden. Diese Tagung wurde unter dem Titel: „Der Geist geistloser Zustände. Religion und Gesellschaftstheorie“ in der Universität Hannover für den 7. und 8. Mai 2010 angekündigt. Veranstalter sind das „Gesellschaftswissenschaftliche Institut Hannover“, die „Marxistische Abendschule Hamburg“ und die „Rosa Luxemburg Stiftung Niedersachsen e.V.“ (siehe unter: www.gi-hannover.de). Dem Programm nach richtet sie sich einmal gegen eine bürgerliche Religionskritik, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Religion hervorbringen, ausklammert, wie gegen eine bloß oberflächliche Religionskritik, die davon absieht, dass in religiösen Begriffen einstmals philosophische Probleme erörtert wurden, deren Ausblenden heute zu einem falschen wissenschaftlichen Selbstbewusstsein führt. Die „Erinnyen“ wollten diese zweitägige Tagung filmen, eine Zusammenfassung ins Internet stellen und eine Langfassung für Interessierte auf DVD brennen. Leider haben die „Organisatoren“ es abgelehnt mit Argumenten, die unseren Redakteur zu einem offenen Brief veranlasst haben. (Siehe dazu auch die dokumentierten E-Mails im Anhang.) Die in dem offenen Brief an den "Organisatoren" geäußerte Kritik sollte keinen Interessierten davon abhalten, die Tagung zu besuchen!
„Der Geist geistloser Zustände“ Offener Brief an die „Organisatoren“ der Tagung „Religionskritik und Gesellschaftstheorie“ „(…) aber bald Ich hatte damit gerechnet, eine Ablehnung für die filmische Darstellung der Tagung zu bekommen, mit den üblichen Argumenten der Philosophen: Abstrakte Gedanken ließen sich nicht filmisch darstellten, oder mit Hinweis auf rechtliche Probleme: Die Autoren würden ihre Texte vielleicht in Sammelbänden o. ä. veröffentlichen und sie darum nicht aufgezeichnet im Internet wieder finden wollen. Doch nach Auskunft von M., von deren richtiger Wiedergabe der Gründe ich im folgenden ausgehe, gab es „einige Bedenken, weil das Thema Religionskritik zur Zeit recht nervös behandelt wird und es eventuell für die Referenten und Referentinnen von Nachteil ist, wenn ihr gesprochenes Wort, das nicht immer bis ins Detail überlegt ist, bis auf unbestimmte Zeit im Internet für potentielle Arbeitgeber usw. zu finden ist.“ (E-Mail vom 24.4.2010, siehe unten). Man kann den Einzelnen nicht vorwerfen, wenn er sich dem Konkurrenzdruck, den Kritiker der Verhältnisse ausgesetzt sind, nicht gewachsen fühlt, dass er sich ins Privatleben zurückzieht, zumal der aus der Konkurrenz erwachsende Meinungskampf nicht nur mit Argumenten ausgefochten wird, sondern auch mit Karriereknicks, manchmal sogar mit Gefängnis (siehe Fall Andrej H.). Aber wenn man sich fürchtet vor einer abstrakten Möglichkeit, wenn man deshalb die Spielräume der Öffentlichkeit nicht ausnutzen will, dann haben die Angst machenden Kräfte schon gewonnen, dann sollte man sein kritisches Bewusstsein gleich an der Garderobe der Arbeitsagentur abgeben. Wer bei jeder kritischen Äußerung zugleich auf seine Karriere schielt, kann keine Wahrheiten produzieren, dessen Bewusstsein ist schon verbogen. Es sei an eine von Peter Bulthaup formulierte Erfahrung erinnert: „Nicht durch die Androhung physischer Gewalt, wohl aber durch die Gewalt, die sie sich selbst antun, um ihre Stellung zu behalten, wird das Selbstbewusstsein der Wissenschaftler im Wissenschaftsbetrieb gebrochen.“ (Gesetz der Freiheit, S. 27) Absurd werden die Argumente gegen eine filmische Dokumentation, wenn sich die „Organisatoren“ Sorgen um die Karrieren der Referenten machen, vermutlich ohne diese überhaupt konsultiert zu haben. Meine Erfahrungen bei einem Dokumentarfilm über die „13. Linke Literaturmesse“ in Nürnberg hat gezeigt, dass ähnliche Ängste von den Veranstaltern geäußert wurden; die Buchautoren jedoch, die ihre Werke vorgestellt haben, äußerten keine Bedenken um mögliche Karriereschädigungen. Ihnen war ihre Botschaft wichtiger als mögliche Nachteile von „potentielle(n) Arbeitgeber(n)“. In solcher kleinkarierten Angst der Organisatoren zeigt sich für mich ein kontemplatives Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, die man dennoch vorgibt, verändern zu wollen; das ist eine Rationalisierung des Rückzugs auf die Theorie, wenn nicht gar die Aufgabe des Wahrheitsanspruchs in ihrer Tätigkeit. Jede linke Kritik benötigt eine Gegenöffentlichkeit, soll sie nicht auf klandestine Zirkel beschränkt bleiben. Und die Verhältnisse, die man vorgibt zu kritisieren, so zu belassen wie sie sind, widerspricht dem eigenen Anspruch. Das „Kritische“ im Namen einer kritischen Theorie (in weiterer Bedeutung des auf Marx zurückgehenden Verständnisses) bezieht sich auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und geht verloren, wenn es der eigenen Karriere in diesen Verhältnissen untergeordnet wird. Oder um Brecht zu zitieren: Es kommt nur so viel Vernunft in die Welt, wie die Vernünftigen verwirklichen. Schaut man sich das Konkurrenzunternehmen der Giordano Bruno Stiftung an, die bürgerliche Religionskritik betreibt, dann zeigt sich, dass diese Leute immer offensiver werden, alle Medien nutzen usw. Demgegenüber lediglich eine Vortragsreihe zu veranstalten und ängstlich darauf zu achten, dass sie nicht über die Medien verbreitet wird, scheint mir theoretische Selbstbefriedigung zu sein, ohne Impuls zur Veränderung. Für Kant war einmal der Mut zum Selbstdenken und zur Wahrnehmung der Freiheit, seine Gedanken zu verbreiten, ausreichend, um die Aufklärung ihren Gang gehen zu lassen. Dieser idealischen Ansicht hat Marx widersprochen, indem er auf die zu verändernden Verhältnisse verwies, die den religiösen Geist auf Grund geistloser Zustände allererst hervorbringen. Eine solche Kritik suspendiert aber nicht von dem Mut, den der Aufklärer Kant fordert und der bis heute aufgebracht werden muss, um falsche Vorstellungen zu kritisieren. Die „Organisatoren“ bringen den Mut auf, eine Veranstaltung über Religionskritik zu machen, haben aber nicht den Mut, ihre Kritik einem etwas größeren Publikum vorzustellen. Das ist inakzeptabel, zumal es heute wenig Mutes bedarf, die Religion zu kritisieren, wenn selbst ein „Kanzler der Bosse“ seinen Amtseid nicht mehr auf Gott ableisten brauchte, der Marxtext, dem der Titel der Tagung entnommen ist, zum Standardtext im Religionsunterricht geworden ist und die bürgerliche Presse täglich Attacken gegen religiöse Vorstellungen fährt. Schlimmstenfalls kann man nicht mehr Mitglied der CDU in Cloppenburg werden. Wenn bei der Anarchie des Marktes, der auch auf die Politik und das herrschende Bewusstsein durchschlägt, Uni- und andere Karrieren mehr von der Gemengelage abhängen, die aus dem gerade bestimmenden politischen Personal, der Uniintrige und dem bloßen Zufall besteht, als von auf Wahrheit beruhenden wissenschaftlichen Leistungen, dann wird sich immer zur Annahme oder Ablehnung etwas finden – sodass ein „gesprochenes Wort, das nicht immer bis ins Detail überlegt ist“, überhaupt keine Rolle spielt. Besonders absurd erscheint die ganze Sache, wenn man bedenkt, dass hier eine öffentliche Veranstaltung angekündigt wird, aber zugleich Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, dass der Blick auf fiktive „Arbeitgeber“ die Sorge erzeugt, dass sich Aussagen in zukünftigen fiktiven Situationen negative auswirken und sich auf Grund spontaner Äußerungen fiktive Karrierehindernisse auftun könnten. Ginge man nach diesen Kriterien für sein Handeln und für seine Äußerungen, dann dürfte man überhaupt nichts mehr tun und nichts mehr öffentlich sagen – oder gleich im Fahrwasser der herrschenden Gedanken, die immer die Gedanken der Herrschaft sind, mitschwimmen. Heute wird Wissenschaft vorwiegend aus Interesse an der eigenen Karriere anstatt aus Interesse an der Wahrheit betrieben. Die Karrieregründe für die Ablehnung einer filmischen Dokumentation lassen befürchten, dass die Intention der Organisatoren zur Kritik am Geist geistloser Zustände noch von diesem Geist affiziert ist. Vorauseilender Gehorsam gegenüber einem potentiellen „Arbeitgeber“ steht notwendig quer zum Wahrheitsanspruch einer kritischen Theorie, ohne den es keine rationale Sozialwissenschaft, keine radikale Gesellschaftskritik und kein vernünftiges Selbstbewusstsein geben kann, geschweige denn eine Veränderung der Produktionsverhältnisse. Bodo Gaßmann (Redakteur der „Erinnyen“) Anhang: Der E-Mail-Verkehr (Der Namen M. wurden abgekürzt, da der Bote nicht für die Botschaft verantwortlich ist.) Freitag, den 16.04.2010, Montag, 19. April 2010 Lieber Bodo, vielen Dank für Deine Anfrage und Dein Interesse an unserer Tagung. Ich werde im Laufe des Tages die anderen Organisatoren nach Ihrer Meinung befragen. Ich melde mich, sobald es Viele Grüße Samstag, 24. April 2010 Lieber Bodo, ich habe jetzt mit den anderen Organisatoren über Deinen Vorschlag Es wäre uns deshalb lieber, wenn die Konferenz nicht aufgezeichnet und Ich danke Dir aber sehr für Dein Interesse und hoffe, dass wir uns auf der Viele Grüße einen Beitrag in unser Gästebuch formulieren, Kritik üben oder mit uns Kontakt aufnehmen...
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